Baukulturelles Erbe im Salzkammergut
Idam:
Heute bin ich zu Gast bei Dr. Paul Mahringer, Kunsthistoriker, Leiter der Abteilung Denkmalforschung im Bundesdenkmalamt, Stellvertreter der Fachdirektorin. Wir sitzen im Herzen der Welterbestätte Altstadt von Wien, im ältesten Teil der Wiener Hofburg. Wir blicken auf den Schweizerhof. Wir sitzen eigentlich oberhalb der Schatzkammer. Ja, und sind im Arbeitszimmer vom Kronprinz Rudolf. Das heißt, das ist im zweiten Obergeschoss die Wohnung des Kronprinzen, das ja über der Belletage, über der Wohnung seines Vaters lag. Sozusagen.
Mahringer:
Also es war eigentlich schon der Kaiser Franz, der ganz in Biedermeier-Manier seine Privaträumlichkeiten weiter benutzt hat und nicht in die Prunkräumlichkeiten, sage ich mal, Maria Theresias gezogen ist. Und dann wurden diese Räumlichkeiten nach dem Tod eben Kaiser Franz, seine Witwe, die hat noch 30 Jahre gelebt, seine vierte Frau, und danach wurde es für den Kronprinz Rudolf noch einmal adaptiert, also sozusagen der Letztstand, wie er jetzt aussieht, ist wohl aus der Zeit mehr oder weniger Kronprinz Rudolf sozusagen.
Idam:
Wir kommen jetzt von dieser sehr, sehr noblen Ebene auf eine sehr profane Ebene. Ich bin mit Dr. Mahringer in Kontakt gekommen. Ich habe ja die Thematik der sogenannten Brunzwinkel untersucht. Es ist immer dort, wo im urbanen Raum eine hohe Dichte an Menschen herrscht. Dort tritt natürlich immer das Phänomen auf, dass Menschen, vor allen Dingen Männer ungehemmter, ihre körperlichen Bedürfnisse erledigen und sich hier ganz bestimmte bauliche Situationen suchen. Und ich habe über dieses Thema der Brunzwinkel eigentlich eine Sammlung von sehr, sehr vielen Welterbestätten, wo hier mit baulichen Maßnahmen entgegengewirkt wird. Und ich habe dann in der Publikation Denkmal heute einen Artikel von Paul Maringer ebenfalls zu diesem Thema gefunden und wir sind dann miteinander in Kontakt gekommen und Dr. Mahringer hat sich bereit erklärt, mit mir über dieses doch sehr ungewöhnliche Thema in der kunsthistorischen Forschung zu sprechen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?
Mahringer:
Und da gibt es viele Anknüpfungspunkte. Es gäbe jetzt auch Anknüpfungspunkte direkt hier an den Raum, wo wir sitzen. Weil natürlich hat das wahnsinnig viel mit der Stadtwerdung oder der Großstadtwerdung Wiens zu tun. Das ist natürlich auch ein Wiener Thema in dem Sinne. Die Großstadtwerdung, die Frage der Hygiene, der Stadterweiterung. Und das alles wurde ja hier im Herzen in der Hofburg mehr oder weniger beschlossen. Und dann ist Wien eben zu einer Millionenstadt geworden, Ringstraße etc. Und wir beschäftigen uns und gleichzeitig sind wir jetzt das Bundesdenkmalamt und die Stelle mit der Frage, was ist alles ein Denkmal, auch hier angesiedelt. Also es sind ganz viele Anknüpfungspunkte hier an diesem Ort. Und das sind eben nicht nur die Hofburg und der Stephansdom und die großen Monumente, sondern eben auch die kleineren Objekte, die vom Alltagsleben schildern. Also die Wirtschaft, Sozialgeschichte etc. Die Kulturgeschichte im weitesten Sinne.
Und wir nähern uns dem Thema ganz langsam sozusagen an, aber es hat natürlich mit der Ringstraße auch wieder zu tun. Dort wurde flaniert und irgendwie, wenn dann die Leute extra zum Flanieren in die Innenstadt kommen, gibt es natürlich auch gewisse Bedürfnisse und die waren dann wieder ein Grund dafür, dass die Bäume nicht gewachsen sind, der Ringstraße. Und es war immer klar, dort, Sie haben es gerade anklingen lassen, wo viele Menschen versammelt sind, gibt es dann auch eben das ein oder andere Bedürfnis. Und das ist eigentlich ganz spannend. Was haben sich sozusagen auch an Objekten erhalten, dieser Kultur?
Und so wie es die Straßenbahnhaltestellen um 1900 gibt, so gibt es auch noch einige Toilettanlagen aus der Zeit um 1900. Und das ist ja ganz was Besonderes, dass so etwas erhalten geblieben ist, weil man denkt immer, naja, das wird erneuert. Oder jeder, der selber an seine Wohnung oder sein Haus denkt, wie oft dann einmal ein Badezimmer erneuert wird etc. Aber dass sich da noch Objekte, Pissoirs oder über den Brunzwinkel werden wir vielleicht noch näher zu sprechen kommen, das wird ein eigenes Phänomen, was sich da alles erhalten hat oder dass sich da auch noch Relikte aus einer Alltagskultur erhalten haben, ist natürlich eine Besonderheit. Und das ist natürlich auch für den Denkmalschutz eine Besonderheit, weil alles, was selten ist und eine gewisse Zeit überdauert hat und auch Ausdruck nicht nur der Hochkultur ist, wie wir es hier jetzt in der Hofburg haben, sondern auch Ausdruck einer breiten Gesellschaft ist wieder auch interessant und aus dem kann man ja viel lernen.
Also da ergeben sich ganz, ganz viele Dinge. Und konkret sozusagen war sicherlich ein Ausgangspunkt eine Diplomarbeit, die sich mit Kleinbauten in der Stadt Wien beschäftigt hat. Und da war auch die Frage, was gibt es denn noch? Jetzt die Würstelstände, gibt es da noch ältere? Oder eben Toilettanlagen ist was Besonderes. Oder die Wartehäuschen der Straßenbahn. Und Straßenbahn, also wir haben ja Kanal, Elektrifizierung, bis hin zum Friedhofswesen an den Stadträndern. Alles, was Hygiene, was Verkehr, was Modernität betrifft, Elektrizität um 1900 oder Ende des 19. Jahrhunderts zur Großstadtwerdung. Wien war ja um 1900 eine Millionenstadt. Jetzt erreicht es wieder die Größe oder die Anzahl an Personen, die es um 1900 hatte. Also da war einfach wahnsinnig viel an Infrastruktur notwendig. Und das sind alles Ausdrücke dieser Zeit, dieser Entwicklung.
Idam:
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war offenkundig eine Zeit der Zäsuren. So wie Sie es jetzt beschrieben haben, es hat sich gesellschaftlich sehr viel verändert. Ich lese das vielleicht an einem Detail hier an der Hofburg ab, etwa 100 Meter von uns entfernt, in östlicher Richtung, ist der Michaeler-Platz. Da gibt es dieses Michaeler-Tor, dieser östliche Eingang in die Hofburg. Und dieses Michaelertor ist ja in zwei Bauetappen entstanden. Es gibt eine Gesamtplanung von Fischer von Erlach aus dem 18. Jahrhundert und da wurde der südliche Flügel fertiggestellt, aber der nördliche Flügel und auch das Tor und die Kuppel wurden erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt. und es springt dieses Tor quasi als Mittelrisalit vor dem Gebäude vor und da bilden sich auch zwei solche Winkel, die ich in meiner Typologie als Brunzwinkel bezeichne und das finde ich sehr spannend. Beim barocken Teil, also beim südlichen Teil, ist dieser Brunzwinkel mit einer riesigen Eisenstange abgesperrt, während er beim nördlichen Teil, der im 19. Jahrhundert entstanden ist, nicht mehr abgesperrt ist. Das heißt, diese Maßnahme lese ich als eine barocke Maßnahme und offenkundig hat sich im 19. Jahrhundert so viel verändert, zum Beispiel durch den Bau einer nahegelegenen unterirdischen Bedürfnisanstalt am Graben.
Mahringer:
Genau, wir sind da mitten in einem Prozess einer totalen Veränderung. Also Kaiser Franz Josef, der befiehlt eben Abbruch der Bastionen und Verbauung des Glacis.
Weil hier klar war, diese Stadtbefestigung hält keinem militärischen Angriff stand.
Idam:
Also wir sind da zeitlich etwa in der Mitte der 1850er Jahre.
Mahringer:
Ziemlich genau Mitte 1850er, vollkommen richtig. Und damit eben auch dieser Großstadtwerdung und einer gesellschaftlichen Veränderung. Was heißt jetzt die Großstadtwerdung? Das heißt die Einbeziehung der Vorstädte und Vororte. Und das waren ja ganz viele kleine Dörfer und dörfliche Strukturen und entsprechend war auch die Infrastruktur. Da gab es jetzt nicht überall einen Kanal und es waren sicherlich auch die hygienischen Zustände andere. Allein wenn man schon daran denkt, noch nicht einmal ein motorisierter Verkehr. Pferde, Fuhrwerke, Fiaker etc. Also auch die Gerüche in der Stadt waren natürlich ganz andere. Und die Menschen kommen aus einer ganz anderen Lebensumgebung und Wahrnehmungszonen sozusagen. Und erst langsam und dann ist natürlich auch, dass diese Modernität, das Großstadtwerden, dass hier sicherlich auch die Gewohnheiten oder so, wie man sich halt am Land einfach zu einem Baum geht, sagen wir jetzt einmal, oder ein Misthaufen oder der Mist, der halt dann auf die Straße geworfen wird oder der dann irgendwo in einer Grube gesammelt wird etc. Da muss sich ja wahnsinnig viel verändern, weil wir natürlich immer, das hatten wir auch zu allen Zeiten, die Städte waren ja immer gefährdet, was Seuchen etc. betrifft. Das heißt, das Thema der Hygiene wurde natürlich ein ganz großes und da sind wir in einer riesigen sozialen und kulturellen Umwälzung.
Idam:
Wenn ich es richtig im Kopf habe, wurde ja der Bau dieser beiden parallel zum Wien-Fluss laufenden großen Sammelkanäle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genau weiß ich es leider nicht, eben als Reaktion auf eine Cholera-Epidemie gebaut. Und es war ja damals so, dass, weil eben noch keine Kanäle vorhanden waren, Fäkalgruben, Sickergruben neben den Häusern waren und in unmittelbarer Nähe die Grundwasserbrunnen.
Mahringer:
Genau, und ich habe das jetzt auch so in Erinnerung, ich habe das jetzt nicht nochmal nachgeschlagen, aber es war ja die Wiener Weltausstellung auch, glaube ich, 1873, wo mit viel Publikum gerechnet wurde. Und da war eben auch das mit der Cholera-Epidemie, das war ein großes Thema. Und man hatte natürlich auch große Angst. Und dann war die Frage auch, Fremde; Hotels zu schaffen. Also da war einfach so wahnsinnig viel an Infrastruktur zu stemmen. Ich glaube, dass das alles irgendwie in diesem Umfeld auch mit zu verorten ist und eben die große Angst. Und gerade wenn man sich präsentieren will als Weltstadt, ist das natürlich auch ein großes Thema, die Hygiene. Und das war etwas, was dann ja sukzessive bis um 1900 ja immer ein Riesenthema war. Eigentlich bis zum gesunden Wohnen, wenn wir jetzt weitergehen, der Gemeindebauten, der Zwischenkriegszeit. Also das war einfach auch dann mit Wohnungsnot etc. Also das war einfach ein großes Thema, was man sich heute gar nicht mehr so vorstellen kann.
Idam:
Es gab ja, wenn wir jetzt sehr, sehr weit zurückgehen, In der Antike, in Rom, bereits eine sehr hochstehende Kultur. In Rom ist ja diese große Kanalanlage, die Cloaca Maxima, ist ja noch in Teilen erhalten, funktioniert nach 2000 Jahren. Und da sind ja zum Teil auch noch, zumindest rudimentär Latrinenanlagen oberhalb dieser Cloaca Maxima noch erhalten. Und es war zur Zeit der Römer, zumindest im hochentwickelten urbanen Raum von Rom, üblich, solche öffentlichen Toilettanlagen zu installieren und zu betreiben.
Mahringer:
Also ich kann jetzt auch nur mehr mich an den Lateinunterricht erinnern, sozusagen Pekunia non olet, der berühmte Ausspruch, Geld stinkt nicht, der damit zusammenhängt. Und dass das ja in Rom noch dazu, und da kommen wir jetzt wieder ein bisschen auf die Kultur und auf die Veränderung zu sprechen, weil wir vom Brunzwinkel ja eigentlich, gibt es ja dann die Toilette, die öffentliche Toilettkultur bis zur Gegenwart, die sich total verändert hat. Da können wir ja auch noch vielleicht über das eine oder andere soziale Phänomen sprechen. Aber in Rom sind die nebeneinander gesessen, einer neben dem anderen und der andere, Politisiert ohne Trennwand. Und für die war das dort ein Ort des öffentlichen Austausches im wahrsten Sinne des Wortes, den wir uns jetzt so gar nicht vorstellen könnten, weil jeder will eigentlich in Ruhe dort sitzen und sein Geschäft verrichten. Und damals war das ein Ort zum Diskutieren und zum Politisieren und wer weiß, was dort alles sozusagen für Revolutionen auf der Toilette entstanden sind.
Idam:
Und da habe ich auch ein geschmackiges Detail dazu: Zur Reinigung des Anus gab es natürlich kein Toilettpapier, so wie wir es heute kennen. Da muss ich sagen, ich bin noch aufgewachsen, ich kenne noch Zeitungspapier, zerschnittenes Zeitungspapier als Toilettpapier kenne ich noch von meinem Großvater. Und bei diesen römischen Latrinen, da gab es öffentlich benutzbare Schwämme, also die waren so ähnlich wie bei uns der Klobesen, waren diese Schwämme auf einem Stiel befestigt, dann gab es in der Latrine eine Rinne, wo das öffentliche Wasser vom Aquädukt abgeleitet wurde. Man konnte mehr oder weniger, so wie wir, einen Klobesen halt einmal kurz ausspülen. So wurde dieser Schwamm ausgespült und dann hat man ihn einfach verwendet. Also auch hier hat sich natürlich sehr viel verändert. Und dann gibt es ja quasi dieses vielleicht manchmal fälschlich als dunkle Mittelalter bezeichnet. Aber da gibt es ja auch Berichte. Wir kennen ja auch Berichte aus dem Mittelalter, wo die Straßen wirklich als ungepflasterter Morast beschrieben werden.
Mahringer:
Also zum Mittelalter konkret, zu der Situation der Toiletten oder Nicht-Toiletten, kann ich Ihnen nicht wahnsinnig viel berichten. Bei den Burgen war ja dann eben schon modern, eben sozusagen diese Nase, wo man dann schon...
Idam: Der Abtrittserker.
Mahringer:
Genau. Also das war aber dann schon eben für die noble Gesellschaft. Und dann gibt es ja auch, was man hin und wieder, jetzt meine Abteilung ist ja für ganz Österreich zuständig und oft auch einmal am Land, gibt es manche Häuser, wo man dann so eine Art Vorsprung sieht und das ist eben dann dieser Kloturm, also wo dann sozusagen eigentlich ein einfaches Plumpsklo, also diese Fallrinne sozusagen anscheinend, ich kann es jetzt nicht belegen, aber ich sage jetzt einmal typologisch eigentlich in der Burg nachempfunden, sozusagen dann schon das Moderne war und dann war eben wahrscheinlich das Plumpsklo der nächste Schritt oder dieser Entwicklungsschritt und deswegen auch wieder interessant, überall war sowas eigentlich noch erhalten ist an Gebäuden, weil natürlich vieles dann den neuen hygienischen Maßnahmen zum Opfer gefallen ist und ich erinnere mich eben noch, also auch meine Großeltern, die Großmutter war aus Hamburg, das waren Kaufleute, bis dann zur Weltwirtschaftskrise waren die sehr reich.
Idam:
Hanseaten.
Mahringer:
Hanseaten und sind zu meiner Großeltern, waren Künstler, haben sich in Kärnten niedergelassen, im bäuerlichen und die waren ganz entsetzt, dass es nicht einmal ein Wasserklosett gab, aber das war halt damals nicht üblich. Man hatte da ganz andere, das hat ganz anders ausgesehen und das war ja gerade im ländlichen Bereich noch bis in die [19]50er Jahre, [19]60er Jahre, war schon der Standard auch ein ganz anderer, muss man sagen. Und das können wir uns, glaube ich, aus heutiger Sicht gar nicht mehr so wirklich vorstellen, außer man übernachtet auf der Alm sozusagen, auf einer Almhütte, wo es eben ja auch dann keinen Kanalanschluss etc. gibt, logischerweise. Aber für eine Großstadt muss man jetzt nochmal, um zurückzugehen, ist das natürlich noch einmal eine viel größere Herausforderung gewesen und vielleicht noch ein anderes Phänomen, dass ich eben einer Literatur vom Herrn [Peter] Payer, der das geschildert hat, diese Kulturgeschichte eigentlich der Toilette in Wien oder der Entwicklung, diese Buttenmänner und -Weiber, die mit einer Butte herumgegangen sind und dann gesagt haben: "Für einen Kreuzer in meine Butten", Wo dann sozusagen die die Butte aufgestellt haben und dann hat man sich halt dort hingehockt und dann hat sie ihre Schürze oder sein größeres Tuch dem umgeworfen und hat dann dort vor Ort auf der Straße allerdings eben mit dem umgeworfenen Tuch sein Geschäft verrichtet. Die erste Form des Mobilklos sozusagen.
Idam:
Ja, da fällt mir ganz spontan ein: im Salzkammergut-Dialekt gibt es ja sogenannte Gstanzln, also das sind quasi Spottlieder, also glaube ich, es kommt von Italienisch Stanza, und in diesen Gstanzeln, da gibt es ein sehr derbes: "Kraxenweib, Kraxenweib, bleib ein wenig stehen, ich scheiße in die Kraxen oft [dann] magst wieder gehen."
Mahringer:
Also das könnte durchaus eine Erinnerung an diese Situation sein. Die Buckelkraxen würde der Butten durchaus entsprechen und es dürfte anscheinend ein eigener Geschäftszweig gewesen sein, der gar nicht mehr so bekannt ist.
Idam:
Und man hat ja vermutlich dann die Fäkalien als Dünger weiterverwendet.
Mahringer:
Kann durchaus sein.
Idam:
Ich kenne da Beispiele aus dem chinesischen Raum, damals aus der chinesischen Kaiserzeit, wo zur Düngung der Reisfelder die städtischen Fäkalien verwendet wurden und hier auch ein ähnliches Geschäftsmodell bestand, wo einerseits natürlich mit diesem Bedarf an Dünger ein Bedarf war, die Fäkalien aus der Stadt zu bringen, weil sie wirtschaftlichen Wert besaßen und andererseits natürlich auch für Hygiene gesorgt wurde.
Ein Thema, das ich bei diesen vielen Brunzwinkeln, die ich in diesen Welterbestätten gefunden habe, und das ist ja so ein Work in Progress. Ich habe in Hallstatt an der HTL unterrichtet, kunstgeschichtliche Fächer. Und habe meine Schülerinnen und Schüler auf dieses Thema sensibilisiert. Das war quasi in der Weihnachtsstunde, damit es halt was Lustiges gibt. Und ich bin jetzt natürlich außer Dienst, bekomme aber immer noch von meinen Schülern E-Mails, die dann irgendwo wieder solche Brunzwinkel entdecken. Also es ist ja ein Augenöffner. Wenn einem die Augen geöffnet werden, sieht man die auf einmal. Und mir sind so die ersten in Wien aufgefallen, eben der vorher beschriebene Michaeler-Platz. Dann gibt es einen in der Himmelpfortgasse, wo der Baukörper des Winterpalais des Prinzen Eugen etwas vorspringt. Eigentlich immer an sehr würdigen Plätzen haben dann, denke ich Menschen hier in diesem Winkel. Ich glaube, der Mann, das kann ich aus meiner eigenen Psyche sagen, wenn mich so ein Bedürfnis plagt, ich suche mir auch immer so einen Winkel. Also es ist nicht das Freistehen. Und da gibt es eben die verschiedensten technischen Abwehrsysteme, die von Gittern bis, und das sind so schöne Beispiele aus Norditalien, 45 Grad schräg gestellte Steinplatten mit einer Tropfkante und wenn man dort sein Geschäft verrichtet, dann tropft einem der Urin dann quasi auf die Schuhe, quasi zur Erziehung.
Mahringer:
Ja, also das war ja in Wien dürfte das eben, wie Sie gesagt haben, ja auch solche Versuche gegeben haben, die mehr oder weniger geglückt sind, weil wahrscheinlich jeder dunkle Winkel in der Stadt gefährdet ist, seine Notdurft zu verrichten. Und das war ja dann eben auch diese Überlegung, aber eigentlich auch eben interessanterweise mit dieser Großstadtwerdung auch in der Hygiene und der Frage, was gibt es für neue technische Einrichtungen, sind halt dann diese öffentlichen Bedürfnisanstalten, wie sie ja auch damals genannt wurden, eigentlich erst entstanden. Also das ist ja eigentlich auch erst mit der Großstadtwerdung Wiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind diese Einrichtungen dann entstanden und das ist eben dann genau auch dieser gesellschaftliche Wandel, wie es plötzlich eine Straßenbahn gegeben hat, sozusagen oder die Haltestellen und von der Buttenfrau zum Pissoir oder Abort und zum Würstelmann zur Würstelbude sozusagen, die sie ja auch mobil verkauft haben. Und dann ist das aber sozusagen mehr oder weniger institutionalisiert worden, zur Anstalt geworden.
Idam:
Sesshaft, eine letztlich ursprünglich nomadisierende Dienste werden im 19. Jahrhundert sesshaft. Es gibt ja im Wiener Stadtbild, also mir fallen zwei Beispiele ein, einmal im Schlosspark von Schönbrunn, einmal am Stubenring an der Ecke des Stadtparks Richtung MAK. Da stehen ja noch Metallkonstruktionen mit grünem Anstrich. Ich glaube, im Wiener Dialekt die "Gringstrichenen", diese Bedürfnisanstalten, die stammen ja auch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Mahringer:
Und dann gab es ja eben verschiedene, das Einfachste waren eben sozusagen diese Wände, wo man so, ich sage einmal, labyrinthisch hineingeht. Und in Amsterdam ist das noch so ganz primitiv, wirklich nur so eine Wand auf Ständer, auch noch um 1900, wo man dann einfach einmal ums Eck geht und dann hinbischt. Also da ist dann gar nicht mehr vorgesehen. Sozusagen die primitivste Form, aber eben auch diese Frühformen. Dann kommen wir wahrscheinlich schon zu diesem Urinol. Diese Frühformen haben natürlich dafür gesorgt, dass man es an einen Ort fokussiert hat. Es hat aber nicht dazu geführt, dass es jetzt deswegen wohlduftender oder hygienischer ist, sondern man hat es halt nur an einen Ort fokussiert. Und dann hat es natürlich in weiterer Folge die Frage gestellt, ja, wie entsorge ich das dann sozusagen? Und dann gab es eben diese Erfindung von dem Berliner, der dann so ein Patent hatte mit so einem Ölsystem, sozusagen Urinol.
Idam:
Ein Siphon, ein Geruchsverschluss mit Öl.
Ich glaube ja auch in Berlin, wenn ich das richtig im Kopf habe, die sogenannten Litfasssäulen sind ja auch ursprünglich Urinale, also Pissoirs gewesen. Mir ist noch ein Detail eingefallen. Wir haben über diese Anbauten, diese Annexe gesprochen. Anbauten, die dann vom Abtrittserker der Burg nachempfunden wurden. Mir ist da ein konkretes Beispiel aus Hallstatt eingefallen. In Hallstatt gibt es ein barockes Amtshaus, in der Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet. Und da gab es auch an der Westseite einen solchen Anbau, der wurde vor kurzem abgebrochen. Und ich habe hier tatsächlich Quellen gefunden im Hofkammerarchiv, wo ursprünglich bei der Planung in den 1750er, 51er Jahren auf das Klo vergessen wurde. Also es wird hier von einer Kommission, einer Hofkammerkommission, die berichtet, dass hier in einem Amtsraum ein Kübel zur Verrichtung der Notdurft aufgestellt war, das einen üblen Geruch verbreitet und da wird eben angeregt ein Klo zu errichten. Also das heißt, Mitte des 18. Jahrhunderts und auch wenn ich mir die Baupläne aus dieser Zeit anschaue, die im Hofkammerarchiv noch evident sind, da ist es eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet man diese Anlagen in den Plänen eingetragen mit der Bezeichnung Privet. Das heißt, es ist eine Entwicklung der Zeit, dass wir im 18. Jahrhundert in den Gebäuden diese Einrichtungen und im 19. Jahrhundert wird es einerseits öffentlich und dann kommt der Geruchsverschluss. Wenn ich es richtig im Kopf habe, hier in der Hofburg war es ja die Gattin von Franz Josef, Kaiserin Elisabeth, die auf den Einbau eines Wasserklosets gedrängt hat.
Mahringer:
Das kann ich jetzt nicht konkret sagen, aber ich kann mir das durchaus vorstellen, weil sie war ja auch sozusagen am internationalen Parkett unterwegs und wir sicherlich diese moderne Erfindung kennengelernt haben und wer, wenn nicht, der Kaiserhof hat das sozusagen als erstes eingeführt. Also das ist durchaus plausibel und in weiterer Folge sozusagen haben wir dann das sogenannte Wasserklosett natürlich in Wien mit der Kanalisierung auch dann fürs Bürgertum und dann auch sukzessive natürlich in den Wohnhäusern eingebaut und auch Wien ist ja da wieder total spannend. Und ich weiß nicht, ob man sich das jetzt in Hallstatt vorstellen kann, aber wie ich als Kind in den …[19]80er Jahren in Wien gab es einfach noch wirklich diese Einzimmerwohnung oder Zweitzimmerwohnung und das Klosett war am Gang. Und das waren diese Zinshäuser, die historistischen und da hat es diesen riesigen Schlüssel gegeben und wenn man wo eingeladen war und du warst bei einer Familie, die hat sogenannt Substandard gewohnt, dann hast du einen Schlüssel gekriegt und dann hast du das aufgesperrt am Gang und da war ja auch das Waschbecken.
Zu dem Zeitpunkt in den 80ern hatten sie vielleicht schon eine Dusche und Küche und ein Waschbecken in der Wohnung, Aber es gab Wohnungen und gerade die alten Menschen, die waren nichts anderes gewohnt, die haben sich halt zumehrt die Toilette am Gang geteilt.
Idam:
Da kann ich mich auch noch gut erinnern und auch an das eigene Klopapier, dass das Klopapier nicht am WC war, sondern in der Wohnung und gleichzeitig mit dem großen WC-Schlüssel hat man auch quasi das eigene Klopapier mitgenommen.
Mahringer:
Genau, also das sind ja kulturelle Wandel sozusagen, die wir teilweise ja selber noch Zeitzeugen sein dürfen und die man sich gar nicht mehr so wirklich vorstellen kann. Das ist schon irgendwie spannend auch.
Idam:
Ja, und ich finde es sehr, sehr schön, dass Sie sich jetzt die Zeit genommen haben, mit mir über ein Thema zu sprechen, das sicher ein Nischenthema ist, über das man vielleicht nicht so gern öffentlich spricht. Aber ich glaube, sehr, sehr interessant die Kulturgeschichte, die Entwicklung ablesbar ist.
Mahringer:
Ja, und ich darf noch einmal ergänzen, mir ist noch ein Gedanke eingefallen, weil Sie gesagt haben, auch Ihre Schüler und die fotografieren das dann und sehen das dann. Also diese Stangen. Das ist wie diese Fußabtreter. Wer kennt noch einen Fußabtreter? Und die verschwinden ja auch bei den historischen Häusern. Und zwar manchmal auch, weil die Leute gar nicht mehr wissen, was das ist und was das war. Und dieses Metallstück und das wissen noch einige, aber den Brunzwinkel kennt eigentlich gar niemand mehr. Deswegen fand ich es auch extrem spannend, dass wir darüber jetzt noch einmal heute diskutiert haben.
Idam:
Ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch und ich werde in die Shownotes Links zu den erwähnten Büchern stellen und auch einen Link zu meiner Bildersammlung und zu der Bildersammlung, die meine Schülerinnen und Schüler ergänzt haben, zu den Brunzwinkeln in den verschiedensten Welterbestätten. Dankeschön.
Mahringer:
Danke, das war großartig.